Raimar Strange
Echte Persönlichkeit? Zur künstlerischen Arbeit von Gitte Villesen
Original printed in Kunst-Bulletin 1/2 2003.
Die Grenze von Kunst und Dokumentation ist spätestens seit der documenta X von Catherine David Thema der ästhetischen Diskussion. Die junge dänische Foto- und Videokünstlerin Gitte Villesen lotet diese Spannung in ihren beinahe langweilig anmutenden Arbeiten eher behutsam aus. Eben dadurch aber gelingt es den visuellen Porträts der im besten Sinne des Wortes ‚eigenwilligen‘ Zeitgenossen, einem sensationslüsternen Voyeurismus zu entkommen.
Der Unterschied von Fiktion und Dokumentation ist gerade in der Film- und Videokunst manchmal nur schwer auszumachen. Der Regisseur Jean-Luc Godard aber schreibt in seinem 1980 als Buch veröffentlichten Vorlesungen zur „Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos“ über seine Filme: „Fiktion, die ich immer auch dokumentarisch behandelt habe“. Und er benennt dort die Differenz beider Genres: „Sobald man sich interessiert, ist Fiktion im Spiel“. Genau diese Spannung ist auch für die künstlerische Arbeit von Gitte Villesen entscheidend.
Vorspiel
„Vorbasser Pferdemesse und -markt, ’94“ (1994). In dieser frühen Videoarbeit besucht die junge Künstlerin des Nachts die im Titel angesprochene Veranstaltung und filmt dort einen ihr gänzlich unbekannten Besucher. Dieser ist zunächst von der ungewohnten Aufmerksamkeit geschmeichelt, er flirtet vor laufender Kamera mit Gitte Villesen, präsentiert lachend sein Bier und auch seine poppigen Bermudashorts. Als ‚echter Mann‘ versucht er die junge Künstlerin zu küssen und stellt ihr stolz seine zahlreichen Freunde vor. Doch langsam wird er unruhig, ja genervt. Denn die schweigende Kamerafrau verweigert jedwede Erklärung, warum sie eigentlich stoisch und unbeirrt diese Aufnahmen macht. So entwickelt sich zunehmend ein Zwiegespräch zwischen dem Gefilmten und dem Prozess des Filmens: „Ich beginne wirklich ärgerlich zu werden: was soll dies hier?“, schimpft der Besucher. Schliesslich fordert er: „Stop es!!“, sichtlich gefoltert von dem anhaltenden Blick der Kamera. Die anfängliche (männliche) Souveränität ist längst gewichen, was bleibt ist eine beinahe aggressive Selbstdekonstruktion des einstmals festen Bildes, das der Mann sich und dem Objektiv vorzuspielen suchte. Das später ungeschnitten zu sehende filmische Porträt wird so gerade aufgrund seiner scheinbar völlig unmotivierten, wenn man so will: dokumentarisch-sachlichen Form zu einem eindrucksvollen Psychogramm, dass beinahe nebenbei die Auflösung einer vermeintlich unbeschwert-heiteren Identität entwickelt.
Happy End?
Gitte Villesen porträtiert in der Folge mehr oder weniger ‚merkwürdige‘ Lebensentwürfe. Merkwürdig sind diese, weil sie sich mal mit eher ‚kauzigem‘ Charakter, mal mit eher bewusst ‚asozialer‘ Qualität und auch mal mit dezidiert künstlerischer Haltung am Rande der Gesellschaft, in so isolierter wie dennoch integrierter Stellung bewegen. Die hier vorgestellten Menschen sind in vielerlei Hinsicht auf der Flucht vor den diktatorischen Normen und falschen Funktionszusammenhängen des ‚richtigen Lebens‘ – doch schon Walter Benjamin wusste, das noch der Flucht eingeschrieben ist, wovor man sich zu retten sucht. Diesen Porträts von Spitzen-Klöplern, Strassen- und Projektkünstlern, von Diskjockeys und Transsexuellen sind dann nicht nur analysierende Beschreibungen von listigen Kritiken an der bestehenden Gesellschaft ablesbar, sondern auch ein sehnsuchtsvolles Begehren, dass sich nicht mit den Lustversprechen von bürgerlicher Gesellschaft und ihrer Unterhaltungsindustrie zufrieden gibt.
On the road
In dem Video „Ingeborg the Busker Queen“ (1999), erzählt Gitte Villesen von dem Leben der Strassenkünstlerin Ingeborg. Diese seltsam selbstverständlich, ja bieder anmutende Exzentrikerin filmt und interviewt die Künstlerin in dem kleinen „Museum für Strassenkunst“, das Ingeborg gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Cibrino in dem dänischen Vorbasse, wir kennen es schon, gegründet und aufgebaut hat. Dort gibt es mancherlei Kuriositäten aus dem bewegten Leben von Ingeborg und Cibrino zu bewundern: Zahme Ratten und Papageien etwa, oder das Foto einer Kuh mit zwei Köpfen, die Ingeborg bis zu deren frühen Tod gepflegt hatte. Dann sind da seltsam unpraktische Holzschuhe, Püppchen, die verheissungsvoll den Rock lüften, und Ähnliches mehr archiviert. Im Garten schliesslich steht eine Kirche für Tiere. Ungewöhnliches wird hier dermassen ausgestellt und benutzt zugleich, dass es von den Träumen und Leidenschaften kündet, die bei den herrschenden Kultur- und Traumfabriken nicht unbedingt auf dem Tagesprogramm stehen. ‚Individuelle Mythologien‘ nämlich werden in „Ingeborg the Busker Queen“ sichtbar, die abseits sowohl vom unterhaltsamen Mainstream, von jeder wissenschaftlichen Disziplin oder politisch-korrekten Agitation passioniert ihr (Überlebens-)Recht fordern.
Lokalpolitik
Der amerikanische Cultural Studies-Theoretiker John Fiske schreibt 1993 in seinem Klassiker, „Power works, power play“, dass ‚locals‘, die in abgeriegelter, aber selbstbewusster Defensive in kleinen Communities leben, mit ihrem freiheitlichen Potential dem nicht gänzlich als übermächtig gedachten ‚Power bloc‘ emanzipativen Widerstand entgegensetzen können. Nicht mehr die grossen, vorbildlichen Lebensentwürfe sind es, die ihn interessieren, sondern kleine, versteckte und völlig unmissionarisch gemeinte Alternativen. Genau dieses Moment des Sichselbstgenügens gibt auch bei Gitte Villesens Erzählungen aus der Provinz in Bild und Ton die Richtung an: Die leise, bescheidene und zurückhaltende Art und Weise, mit der sie ihre Protagonisten in ihren Fotos und Videos in Szene setzt, ist eben der Erkenntnis geschuldet, nicht mehr mit attraktiv und aggressiv nach Durchsetzung fordernden Utopien brillieren zu wollen. Stattdessen bietet sie auf den ersten Blick fast belanglose Miniaturen an, die, wenn man sich denn in aller Ruhe auf sie einlässt, langsam aber sicher ihre doch latent subversiven Qualitäten behaupten. Behaupten aber, ohne überzeugen zu wollen. Noch einmal Walter Benjamin: „Überzeugen ist unfruchtbar“.
Sexy
In ihrer neuesten Videoarbeit, „Solveig“ (2002), die sie gemeinsam mit Lars Erik Frank konzipiert hat, stellt sich die 66-jährige Transsexuelle Solveig vor. Ruhig sitzt sie vor der Kamera und erzählt von ihrem Leben. Anno 1936 wurde sie als Niels Lerche geboren, doch schon als 11-jährige entdeckte sie ihre Vorliebe für Frauenkleider. Erst im Alter von Dreissig aber kommt sie erstmals mit dem Phänomen ‚Transvestit‘ in Berührung. Niels war in seinem Leben dreimal verheiratet und hatte drei Töchter. Die beiden letzten Ehefrauen wussten um Niels‘, wie sie es einschätzten, nächtliche ‚Eskapaden‘ als Transvestit. Im Alter von 62 verliert sie, die sich damals selbst eher als ‚Macho‘ einschätzte, vorzeitig ihren Job in der Elektronikbranche und wird Pensionär. Jetzt ist sie nicht mehr gezwungen, Rücksichten im beruflichen Leben zu nehmen, und sie entschliesst sich, endgültig als Frau zu leben. Sie nimmt Hormone ein, um eine weibliche Körperform zu bekommen, ihre Haare lässt Solveig nun lang wachsen, die Männerkleidung wandert in den Mülleimer. Ihr neuer Name ‚Solveig‘ ist der Name der letzten Frau, mit der Niels eine Affäre hatte. 1997 schliesslich wird sie Vorsitzende der dänischen Transvestitenorganisation TID.
Wie selbstverständlich erzählt die Transsexuelle in dieser Videoarbeit, völlig unspektakulär, aber bestimmt und sensibel. Ihre Ausführungen, etwa die Erörterung des Problems, ihren neuen Namen ‚Solveig‘ amtlich registrieren zu können, benennen überaus politische Zusammenhänge. Der Entschluss, das eigene Geschlecht selbst wählen zu können, unabhängig von ’natürlich Vorgegebenem‘, trifft nämlich die Gesellschaft und ihre Vorstellung von Identität ins Mark. Solveig gelingt es die Beziehung von normativer Standardisierung und Sexualität aufzudecken und sich zumindestens tendenziell diesem Geflecht in einer bewussten Umstrukturierung zu entziehen. Ihr Ausleben von Geschlechtlichkeit erscheint, wie Michel Foucault es wohl beschrieben hätte, „nicht in einer wesenhaften und positiven Beziehung zur Macht, sondern in einer eigenartigen und selbstständigen und von der Macht bedrohten Instanz“. Gitte Villesen protokolliert in ihrer Videoarbeit dies so lapidar wie präzise. Und mahnt so aufklärerisch an, ohne den Zeigefinger zu heben.